Diese Psukim beschreiben die Zizit oder Schaufäden, die an den vier Ecken eines Schals oder rechteckigen Kleidungsstücks befestigt werden. Diese Psukim sind aber auch bekannt als Teil des Sch'mas, das wir morgens und abends lesen.
In diesen Versen ist das Motiv des Sehens auffällig:
(לט) וְהָיָ֣ה לָכֶם֮ לְצִיצִת֒ וּרְאִיתֶ֣ם אֹת֗וֹ וּזְכַרְתֶּם֙ אֶת־כׇּל־מִצְוֺ֣ת יְהֹוָ֔ה וַעֲשִׂיתֶ֖ם אֹתָ֑ם
(39) Und dazu sollen die Tzitzit euch dienen: sooft ihr sie anseht, sollt ihr an alle Gebote G"ttes denken und sie tun.
Und wirklich: Das Sehen bzw. unser Sehvermögen ist nicht nur der Fokus dieser Verse am Ende der Parascha. Vielmehr ist es ein Leitmotiv in der gesamten Paraschat Schlach-Lecha.
Am Anfang der Parascha sind die Bnei Israel in Midbar Paran, unweit vom versprochenen Land Israel entfernt. Mosche gibt Anweisungen an die Kundschafter, die das gelobte Land erkunden sollen. Er sagt ihnen:
(יח) וּרְאִיתֶ֥ם אֶת־הָאָ֖רֶץ מַה־הִ֑וא וְאֶת־הָעָם֙ הַיֹּשֵׁ֣ב עָלֶ֔יהָ הֶחָזָ֥ק הוּא֙ הֲרָפֶ֔ה הַמְעַ֥ט ה֖וּא אִם־רָֽב׃
(18) und seht euch das Land an, wie es beschaffen ist, und das Volk, das darin wohnt, ob es stark oder schwach, gering oder zahlreich ist.
(לב) וַיֹּצִ֜יאוּ דִּבַּ֤ת הָאָ֙רֶץ֙ אֲשֶׁ֣ר תָּר֣וּ אֹתָ֔הּ אֶל־בְּנֵ֥י יִשְׂרָאֵ֖ל לֵאמֹ֑ר הָאָ֡רֶץ אֲשֶׁר֩ עָבַ֨רְנוּ בָ֜הּ לָת֣וּר אֹתָ֗הּ אֶ֣רֶץ אֹכֶ֤לֶת יוֹשְׁבֶ֙יהָ֙ הִ֔וא וְכׇל־הָעָ֛ם אֲשֶׁר־רָאִ֥ינוּ בְתוֹכָ֖הּ אַנְשֵׁ֥י מִדּֽוֹת׃ (לג) וְשָׁ֣ם רָאִ֗ינוּ אֶת־הַנְּפִילִ֛ים בְּנֵ֥י עֲנָ֖ק מִן־הַנְּפִלִ֑ים וַנְּהִ֤י בְעֵינֵ֙ינוּ֙ כַּֽחֲגָבִ֔ים וְכֵ֥ן הָיִ֖ינוּ בְּעֵינֵיהֶֽם׃
(32) Und sie brachten über das Land, das sie erkundet hatten, ein böses Gerücht auf unter den Israeliten und sprachen: Das Land, durch das wir gegangen sind, um es zu erkunden, frisst seine Bewohner, und alles Volk, das wir darin sahen, sind Leute von hohem Wuchs.
(33) Wir sahen dort auch Riesen, Anaks Söhne aus dem Geschlecht der Riesen, und wir waren in unsern Augen klein wie Heuschrecken und waren es auch in ihren Augen.
Aber zurück zum Thema der Zizit am Ende der Parascha:
Die zweite Hälfte des Passuks, den ich vorher vorgelesen habe enthält eine Überraschung:
(לט) וְהָיָ֣ה לָכֶם֮ לְצִיצִת֒ וּרְאִיתֶ֣ם אֹת֗וֹ וּזְכַרְתֶּם֙ אֶת־כׇּל־מִצְוֺ֣ת יְהֹוָ֔ה וַעֲשִׂיתֶ֖ם אֹתָ֑ם ... וְלֹֽא־תָת֜וּרוּ אַחֲרֵ֤י לְבַבְכֶם֙ וְאַחֲרֵ֣י עֵֽינֵיכֶ֔ם אֲשֶׁר־אַתֶּ֥ם זֹנִ֖ים אַחֲרֵיהֶֽם׃
(39) Und dazu sollen die Tzitzit euch dienen: sooft ihr sie anseht, sollt ihr an alle Gebote G"ttes denken und sie tun.
... dass ihr euch nicht von eurem Herzen noch von euren Augen verführen lasst und abgöttisch werdet.
Es geht nicht mehr nur um das Auge, sondern auch noch um das Herz, das in diesem Passuk sogar noch vor dem Auge erwähnt wird.
- Sehen ist nicht neutral.
- Sehen ist nicht objektiv.
Und nicht nur, dass unsere Gedanken bzw. Gefühle beeinflussen, wie wir sehen, sondern
wir stellen oftmals auch fest, dass Dinge, sich später in einem anderen Licht zeigen, als was wir ursprünglich ahnten.
Die Bnei Israel dachten, sie wären dabei, das Land zu betreten.
Sie meinten: "Wir schicken Kundschafter ins Land und dann gehen wir hin!"
Aber es stellt sich heraus, dass dies nicht der Fall sein wird.
Zehn der Kundschafter brachten böse Gerüchte über das Land zurück; das Volk gerät in Verzweiflung, sie murren gegen Mosche und Aaron und wollen zurück nach Ägypten.
Als Strafe, wird diese Generation in der Wüste sterben und das Land nie sehen.
Diese Generation, die sich am Rande eines Neuanfangs wähnte, wird schliesslich ein bitteres Ende finden.
הָיָה מְהַלֵּךְ בַּדֶּרֶךְ אוֹ בַּמִּדְבָּר וְאֵינוֹ יוֹדֵעַ אֵימָתַי שַׁבָּת
Jemand reiste auf dem Weg oder in der Wüste; und er wusste nicht, wann Schabbat ist.
Jeder Tag sieht gleich aus, und wenn man die Wochentage nicht mehr kennt, wann feiert man dann Schabbat?
Die Gemara bringt zwei Meinungen:
אָמַר רַב הוּנָא: הָיָה מְהַלֵּךְ בַּדֶּרֶךְ אוֹ בַּמִּדְבָּר וְאֵינוֹ יוֹדֵעַ אֵימָתַי שַׁבָּת, מוֹנֶה שִׁשָּׁה יָמִים וּמְשַׁמֵּר יוֹם אֶחָד. חִיָּיא בַּר רַב אוֹמֵר: מְשַׁמֵּר יוֹם אֶחָד, וּמוֹנֶה שִׁשָּׁה.
Raw Huna sagte: Wenn jemand sich auf der Reise oder in der Wüste befindet und nicht weiss, wann Schabbat ist, so zähle er sechs Tage und feiere einen. Chija bar Rav sagt, er feiere einen und zähle sechs Tage.
- Laut Raw Huna sollte man anfangen, sechs Tage zu zählen, und am siebten, feiert man den Schabbat.
- Laut Chija bar Raw, macht man genau das Gegenteil: Man feiert sofort Schabbat und dann zählt man sechs Arbeitstage.
Aber die Gemara fährt fort, ihre Gründe zu erklären. Und wie Sie sehen werden, deuten ihre Überlegungen auf die Tatsache hin, dass diese Debatte mehr als nur eine technische Angelegenheit ist.
בְּמַאי קָמִיפַּלְגִי — מָר סָבַר כִּבְרִיָּיתוֹ שֶׁל עוֹלָם, וּמָר סָבַר כְּאָדָם הָרִאשׁוֹן.
Worin besteht ihr Streit?
Einer ist der Ansicht, man richte sich nach der Weltschöpfung, und einer ist der Ansicht, nach [der Schöpfung] Adams, des Urmenschen.
Wie war das in der Reihenfolge von Bereschit? Nun ja: Gott schuf die Welt in sechs Tagen und ruhte am siebten Tag. Dementsprechend müssen wir zuerst 6 Tage zählen und dann den Schabbat feiern (laut Rav Huna).
Wie war es bei Adam haRischon? Nun, Adam wurde am Freitagnachmittag, Erew Schabbat, erschaffen, also kurz bevor der Schabbat begann. Das heisst, Adam haRischon begann sein Leben praktisch am Schabbat, und zählte dann 6 Tage bis zum nächsten. Dementsprechend müssen wir zuerst Schabbat feiern und dann 6 Tage nach Chija bar Raw zählen.
Öfters wird diese Gemara als eine Spannung zwischen dem Kosmologischen und dem Menschlichen interpretiert. Eine Art tiefe theologische Debatte über die Bedeutung des Schabbats: Sehen wir den Schabbat aus der Perspektive des Schöpfers oder aus jener des Menschen.
Und das ist definitiv der Kern der Debatte in dieser Gemara.
Aber ich denke, es gibt einen anderen, einfacheren Weg, diesen Text zu analysieren, und zwar als die folgende Frage:
- Kommt Schabbat am Ende der 6 Tage der Woche, d.h. ist Schabbat das Ende, Jom Schwi'i, die Krönung unserer Woche? Braucht Schabbat quasi eine Arbeitswoche davor, um Schabbat zu sein?
- Oder ist Schabbat der Beginn einer neuen Woche. Folgt auf Schabbat eine 6-tägige Arbeitswoche?
- Ist Schabbat ein Tag der Erholung von der vorangegangenen Woche, ein spirituelles Hoch nach einer langen Woche der Arbeit,
- oder ein Tag, um unsere emotionalen und spirituellen Batterien für die nächste Woche wieder aufzuladen und danach davon zu zehren?
Ist Schabbat ein Ausklang oder ein Neubeginn?
Aber diese Episode, in der die Beobachter einen Blick auf das versprochene Land erhaschten, führte nicht zum Beginn von etwas Neuem, sondern zu einem langsamen Ende, das sich über fast 40 Jahre in der Wüste erstreckte.
Aber dennoch stehen wir alle manchmal am Rande einer massiven Veränderung, kurz davor, ein Neuland zu betreten, sei es physisch oder metaphorisch.
Wir alle sind manchmal verloren, mit all den Ängsten, Unsicherheiten usw., die das Leben mit sich bringt.
Es ist uns allen schon passiert, dass wir dachten, ein Ereignis sei der Beginn eines neuen Abenteuers, während es in Wirklichkeit das Ende von etwas anderem war.
Genau in einer solchen Übergangsphase befinden wir uns momentan auch in der westlichen Welt. Viele von uns beschäftigen sich momentan intensiv mit dem Thema der Corona-Impfung. Ist sie der Abschluss von mehr als einem Jahr Pandemie oder ist es der Anfang der sogenannten "neuen Realität"?
Und vielleicht ist ein wenig von diesem Gefühl des Dazwischen-Seins, der Verwirrung zwischen dem Ende einer Periode und dem Beginn einer neuen, in der Erfahrung eines jeden Schabbats verkörpert.
Ob Ihr Schabbat so wird, wie Sie es erwartet haben, er die Krönung ist von der Woche, die hinter Ihnen liegt, oder der Beginn von etwas Neuem,
oder ob es vielleicht ein bisschen von beidem ist...
Ich wünsche uns allen: Schabbat Schalom!
